Wenn ein Buch zum Leben erwacht

Ein Buch ist zum Lesen da. Oder nicht? Dass das Blättern darin genauso wichtig ist, beweist unter anderem das Daumenkino.

Kaum eine Kindheit kommt ohne aus. Das Daumenkino, ein kleines Büchlein, bei dem man schnell blättert, so dass vor den Augen ein kleiner Film entsteht, lernen wir meist als Kind beim Spielen kennen, vielleicht auch als Merchandise-Artikel. Entstanden ist das Daumenkino in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seitdem haben sich zahlreiche Künstler damit beschäftigt und mit den formalen und inhaltlichen Möglichkeiten experimentiert. Die vermeintlich einfache Bedienung macht Daumenkinos besonders attraktiv – für jedes Alter geeignet, weder besondere Sprachkenntnisse noch Fertigkeiten für den Gebrauch sind nötig. Wir müssen lediglich selbst aktiv werden. Wie wir Blättern bestimmt dabei, was gesehen wird und was nicht gesehen wird, und was man sich vorstellen muss. Meist blättern wir ein Daumenkino auch mehrmals hintereinander ab, um das Schauspiel noch einmal sehen zu können, Details näher zu betrachten oder um zu prüfen, ob wir nichts übersehen haben. “Der Daumen wird zum Projektor für ein privates Kino”, sagt Ernst Strouhal, Autor, Publizist und Kulturgeschichtsforscher. Er beschäftigt sich ausgiebig mit den Themen Zauberei und Spiele, Erzählen und Lesen.

Ein Accessoire der Gauklerei

Dass ein Buch so trickreich verwendet werden kann, weiß man aber nicht erst seit dem Daumenkino. “Wesentlich älter ist nämlich das Verwandlungsbuch, auch Flickbuch genannt,” so Strouhal. Ein solches Buch ist ein Zaubertrick: Wird darin geblättert sieht man Bilder, dann plötzlich sind die Seiten wieder leer oder zeigen andere Bilder. „Das Verwandlungsbuch gehört zu den ältesten Requisiten der Zauberkunst. Der Zauberkünstler brachte beim Blättern im Buch sein Publikum zum Staunen und zeigte so, dass man genauer und stets noch genauer hinschauen muss, um vom Buch nicht getäuscht zu werden,“ sagt Strouhal. Ein bekannter Anwender des Verwandlungsbuches ist Simplicissismus, Hauptfigur u.a. des Springinsfeld-Romans von Grimmelshausen. Er verwendete bei seinen Auftritten Zauberbücher oder Blowbooks. Das Publikum wurde dazu eingeladen, ein Buch zu ‘beblasen’, so dass sich scheinbar schicksalsbedingt bestimmte Seiten öffneten, welche Auskunft über das Leben der jeweiligen Person gaben.

“Daumenkinos und Verwandlungsbücher waren stets Instrumente der Unterhaltung, aber auch Medien der fröhlichen Aufklärung.” In seinem neuen Buch “Gespräch mit einem Esel. Vom Lesen mit dem Daumen” lässt Ernst Strouhal die alte Tradition des magischen Verwandlungsbuches und des Daumenkinos zugleich aufleben. “In der Geschichte des Buches ist das nur wenige Male bisher gemacht worden. Ich lade mit diesem Buch zum Lesen und zum Blättern ein und vor allem zum Staunen ein. Es ist vielmehr als ein Buch.”

Ernst Strouhal unterrichtet an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er ist Autor und Kulturwissenschaftler. Mit seinem neuen Buch “Gespräch mit einem Esel. Vom Lesen mit dem Daumen” legt er neuerlich ein bemerkenswertes literarisches Werk vor. Die griechische Insel Kea wird zum Schauplatz eines ganz außergewöhnlichen Gesprächs. Ein gewitzter Dialog zwischen einem ebenso klugen wie streitlustigem Esel und dem Erzähler machen die Fabel zur vergnüglichen Lektüre.

Bei Brandstätter bisher erschienen: „Im Zoo der imaginären Tiere“ (2012); „Die Welt im Spiel. Atlas der spielbaren Landkarten“ (2015); „Böse Briefe. Eine Geschichte des Drohens und Erpressens“ (2017, gem. mit Christoph Winder).

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