Wo sind wir hier eigentlich, Adele Neuhauser?

Am 29. September wird in Österreich ein neuer Nationalrat gewählt. Anlass, um innezuhalten und die Frage zu stellen: Wo stehen wir als Land, als Gesellschaft? Adele Neuhauser über ihre Beziehung zum österreichischen Publikum und österreichische Ängste. 

Besonders viel habe ich im Zuge der Veröffentlichung meiner Autobiografie gelernt. Denn wenn man auf der Bühne spielt, hat man ja eigentlich wenig Kontakt zum Publikum, und vor der Kamera noch weniger. Durch mein Buch bin ich sehr viel im Land herumgekommen. Ich habe meine Geschichte ja sehr offen und frei erzählt, und in der Reaktion des Publikums habe ich gemerkt, wie unglaublich stark die Sehnsucht nach dieser Offenheit ist, und wie groß die Verblüffung ist, wenn jemand diese Offenheit lebt. Im Zuge dessen ist mir auch klar geworden, dass wir als Schauspieler eine sehr große Verantwortung haben, wie wir mit bestimmten Themen umgehen, welche Geschichten wir erzählen, wie wichtig der Bezug zur Realität ist – ganz besonders beim „Tatort“. Da dürfen wir keinen Verrat an den Emotionen betreiben.

Wo wir als Gesellschaft heute stehen, das ist auch sehr stark von den seltsamen Bildern, Sehnsüchten und Ängsten geprägt, die wir den Menschen einreden.

Wir sind heute an einem Punkt, wo eine bestimmte Sprache wieder Platz hat, wo bestimmte Dinge wieder gesagt werden dürfen – und das ist ein sehr gefährlicher Punkt. Ich glaube, da können und müssen wir als Künstler sehr viel tun.
Ich glaube, dass die Menschen nicht wissen, wo sie stehen. Da sind einmal die Technologien, die uns über den Kopf wachsen. Wir haben nicht gelernt, mit ihnen umzugehen und die positiven Dinge zu sehen. Wir benutzen diese sozialen Medien, um zu dokumentieren, wo wir uns gerade bewegen, ohne aber wirklich hinzuschauen, wo wir tatsächlich sind. Ich sehe Menschen, die durch die Stadt rennen, permanent nur Selfies machen oder dokumentieren, dass sie da sind, aber dabei gar nicht die Stadt und die Menschen sehen. Aber was entscheidend ist, und das denke ich mir immer öfter bei sämtlichen Diskussionen: Es geht nicht um Technologien, und auch nicht um das Erreichen von wirtschaftlichen Leistungen. Es geht um den Menschen. Und wenn wir mit unseren wirtschaftlichen und politischen Überlegungen an den Menschen vorbeigehen, dann entsteht beim Einzelnen eine gewisse Trostlosigkeit und eine Machtlosigkeit. Durch dieses Vorbeigehen am Menschen wird auch das Gefühl des Nicht-Gehörtwerdens, des Nicht-Gesehenwerdens geschürt. Damit werden die Menschen zu einem gefundenen Fressen für alle möglichen seltsamen Erzählungen.

Wir reden alle viel zu wenig miteinander.

Adele Neuhauser (*1959) ist eine in Athen geborene österreichische Schauspielerin. Sie begann am Theater und erlangte durch ihre Rollen in TV-Serien („Vier Frauen und ein Todesfall“, „Tatort“) große Popularität. Beim Brandstätter Verlag erschien ihre Autobiografie

Dieser Kommentar ist Teil eines Stammtischgesprächs bei dem sich über 50 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Landes Österreich unterhalten haben. Das Ergebnis ist das Buch “Wo sind wie hier eigentlich? Österreich im Gespräch“, entstanden in Kooperation mit dem Magazin DATUM.

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