Kann Glück auch Schicksal sein?

Storybild  kann-glueck-auch-schicksal-sein 01

“Ich habe mein ganzes Glück im Krieg verbraucht.” Dieser Satz seines Vaters ließ Tarek Leitner nicht mehr los. Zwei Reisen seines Vaters von Berlin nach Linz während der Zeit des Nationalsozialismus waren Anstoß für das bislang persönlichste Buch des beliebten Fernsehmoderators und Autors, das nun erscheint.

Stundenlange Interviews, das Sichten vieler Stunden Filmmaterial und dutzender Dokumente: Die Forschung in der eigenen Familiengeschichte ist Grundlage für Tarek Leitners Buch über zwei Reisen seines Vaters Alfred, der zwei Mal von Berlin nach Linz reiste – jeweils in den schicksalhaften Jahren 1938 und 1945, einmal kurz nach dem „Anschluss“ und einmal unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wann genau hatte sein Vater sein ganzes Glück verbraucht? Wie ist das generell mit den Menschen, die Mitte des 20. Jahrhunderts den Krieg zu bewältigen hatten – konnte man da nur mit einer Portion Glück durchkommen, die danach fehlte? Brauchte man zum anständigen Durchkommen eine noch größere Portion Glück? Und konnte man damals überhaupt „unpolitisch“ sein?

Diesen Fragen spürt Tarek Leitner nach. Es ist die berührende Erzählung über das Aufregende im vermeintlich Unspektakulären, ein Stück Gesellschafts- und Mobilitätsgeschichte. Hier ein paar exklusive Einblicke.

1938, mein Vater Alfred vor dem Brandenburger Tor. Mit meinem Großvater Rudolf ist er mit dem Zug von Linz nach Berlin, die neue Hauptstadt, gereist, um dort das neue Auto abzuholen: einen stahlblauen DKW-Sonderklasse, direkt aus dem Auto-Union-Werk in Spandau.

 

 

Die Neugier war groß, und auch die Vorfreude auf die lange Jungfernfahrt zurück nach Linz. Die wollte mein zwölfjähriger Vater nicht seinem Vater überlassen. Natürlich durfte man auch damals nicht mit zwölf Jahren Auto fahren. Aber die Härte der Gesetze betraf zu dieser Zeit andere Lebensbereiche. Die Reichsautobahn wurde für meinen Vater zur Übungsrennbahn.

 

Rudolf war Kaufmann und Uhrmacher, Räder seine Leidenschaft. Kleine, von einer Feder angetriebene, verbaut in den Taschen- und Armbanduhren, die man nur mit der ins Auge geklemmten Lupe bearbeiten kann; und große, mit Ketten und Schmiere, schmutzige und schnellaufende, die nur mit Handschuhen und Kraft gewartet werden können. Er brauchte das Feingliedrige und das Grobschlachtige, die Unruh und das Speedwayrennen. Hier sitzt er auf seiner Speedway-Maschine.

 

 

 

Links mein Vater, rechts mein Großvater Rudolf. Dieser war auf eine merkwürdig unpolitische Art höchst politisch. Die Nationalsozialisten lehnte er nur insofern ab, als er sie nicht ernst nahm. Die Strenge Rudolfs hatte auch ihr Gutes. Sie machte meinen Vater misstrauisch gegen jede Art von Autorität. Das war nicht Erziehung, sondern sicherlich ein großer Teil seines Glücks.

 

 

 

 

1945, sieben Jahre nach der ersten Berlin-Linz-Reise, fährt mein Vater wieder mit dem Zug nach Berlin. Aber diesmal, sieben Jahre später, ist Deutschland ein zerstörtes Land, seine Mitreisenden sind Soldaten, wie er selbst einer ist. Der Auftrag: die Rote Armee aufzuhalten. Anders als bei der ersten Reise, als er ein Gefühl der Freiheit und des Aufbruchs erfuhr, dachte er nun als Achtzehnjähriger, dass seine Welt vorüber war. Doch mein Vater hatte Glück: Mit einem gegen eine Uhr eingetauschten klapprigen Fahrrad macht er sich im Mai, kurz vor Kriegsende, wieder auf der Autobahn, vorbei an Bombenkratern und Militärkonvois, auf den Heimweg nach Linz.

Die Amis warfen ihre kaum abgebrannten Zigaretten aus den Fenstern. Die habe er immer aufgeklaubt und fertiggeraucht. Am Fahrrad rauchend gegen die Mittagssonne fahren, das war ein herrliches Gefühl, erzählte er. Mir wurde erstmals mein Glück so richtig bewusst, sagte er.

Bis auf einen Granatsplitter im Bein war mein Vater körperlich nahezu unversehrt vom Krieg geblieben. Nach dieser Rückfahrt in die Heimat war sein Glück verbraucht. Dann waren große Reisen seine Sache nicht mehr. Das Leben ist Reise genug, sagte mein Vater.

Berlin – Linz wird am 12. März, am Jahrestag des “Anschlusses”, im Haus der Geschichte in Wien präsentiert. Infos hier.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Tarek Leitner, Anchorman der “Zeit im Bild”, Österreichs meistgesehener Nachrichtensendung, dreifacher Romy-Preisträger als beliebtester Moderator und Bestseller-Autor, interessiert sich für die Umgebung unseres Lebens. Im Brandstätter Verlag veröffentlichte er zuletzt Mut zur Schönheit (2012), Wo leben wir denn? (2015) und zuletzt Hilde & Gretl (2018).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Buch bestellen