Wer sich in sozialen Medien bewegt, sieht es deutlich: Wer am lautesten und aggressivsten auftritt, bekommt am meisten Reichweite. Öffentliche Debatten werden gezielt emotionalisiert, polarisiert und manipuliert, die Stimmung wird dadurch feindseliger. Für Bestsellerautorin Ingrid Brodnig ist das nicht nur im persönlichen Alltag extrem frustrierend, sondern auch brandgefährlich für unsere Gesellschaft und Demokratie. In ihrem neuen Buch “Wider die Verrohung” zeigt die Expertin für Digitalisierung und deren gesellschaftliche Auswirkungen, wie diese Verrohung des Klimas bewusst herbeigeführt wird – zum Beispiel durch Bullshit-Debatten, populistische Diskussionsmuster, Diffamierung und Hetze gegen öffentliche Personen, Fake News und rechtsextreme Kampagnen, angetrieben von Mechanismen sozialer Medien. Brodnig bietet Strategien und gibt Tipps, wie wir auf Polarisierung und wütend geführte Diskurse antworten können. Sie ist überzeugt, dass jede und jeder Einzelne von uns positiv mitbeeinflussen kann, wie in unserer Gesellschaft miteinander gesprochen wird. Hier ein Auszug.
Natürlich kann man als Einzelne oder Einzelner nicht beeinflussen, welche Emotionen zum Beispiel Parteien in ihren Wahlkampfvideos hervorrufen möchten. Auch hat man oft wenig Einfluss darauf, wie aufgeheizt die Grundstimmung bei manchen Diskussionen bereits ist oder wie kalkuliert Reizthemen eingebracht werden. Worauf ich selbst aber Einfluss habe, ist, wie ich dann reagiere. Die Überlegung, wie man persönlich gerade mit Emotionen wie Wut umgeht, ist nicht neu. Der griechische Philosoph Aristoteles schrieb schon vor mehr als 2300 Jahren, dass es „jedermanns Sache und ein Leichtes“ sei, zornig zu werden. Schwieriger sei es, das richtige Maß dabei zu finden: „Es ist nicht leicht, zu bestimmen, wie und wem und aus welcher Veranlassung und wie lange man zürnen soll (…).“
Empfehlung
Diese Suche nach dem richtigen Maß in der eigenen Emotionalität halte ich für einen guten Ansatz. Lassen Sie mich drei Tipps geben, die zum Teil auf Überlegungen der Kommunikationswissenschaftlerinnen Whitney Phillips und Diane Grimes aufbauen und zum Teil auf meinen eigenen Erfahrungen fußen:
1. Ein Reality Check ist immer sinnvoll. Stimmt die Behauptung, die mich gerade in Wut versetzt, überhaupt?
Egal, wo man politisch steht, kann es passieren, dass einen eine Falschmeldung überrumpelt und in Wut versetzt. So wurde vor einigen Jahren die Geschichte verbreitet, in Berlin wäre im Januar ein syrischer Geflüchteter gestorben, weil er zu lange in der Kälte beim zuständigen Amt hätte warten müssen, zunächst Fieber und Schüttelfrost bekommen und dann einen Herzstillstand erlitten hätte. Das war eine Erfindung. Gerade wenn man Wut verspürt oder merkt, wie die eigenen Vorstellungen oder Feindbilder bestätigt werden, ist das ein guter Moment, sich zu erinnern, dass Wut und das Gefühl der eigenen Bestätigung Tricks sein können, damit man nicht zu kritisch die Nachricht überprüft. In vielen Fällen sind Falschmeldungen aber nicht gänzlich erfunden, sondern basieren ansatzweise auf einem realen Vorfall – zum Beispiel hat Landwirtschaftsministerin Klöckner tatsächlich im Fernsehen über Zuverdienstgrenzen von Asylbewerber:innen gesprochen, ihr wurde dann aber zusätzlich ein falsches Zitat in den Mund gelegt. Selbst wenn ein Teil der Meldung korrekt ist, darf der Reality Check an dieser Stelle natürlich nicht enden, das wäre nämlich Cherry Picking (das bedeutet, dass man sich nur jene Infos herauspickt, die zur eigenen Sichtweise passen und die Fakten ignoriert, die dieser widersprechen). Gerade wenn eine brisant klingende Erzählung gut zur eigenen Sichtweise oder den Reizthemen, die einen beschäftigen, passt, ist diese Bereitschaft zur Differenzierung von größter Bedeutung: Gibt es Teile der Erzählung, die nachweisbar falsch sind und mit denen der Vorfall aufgebauscht oder sogar zu etwas gänzlich Neuem gemacht wird?
2. Kann ich mir die Zeit nehmen, meine Gedanken zu sortieren?
Der Moment, in dem man wütend ist, ist oft einer, in dem man die Komplexität eines bestimmten Themas, das einen gerade bewegt, oder eines Gegenarguments nicht berücksichtigt, vielleicht gar nicht berücksichtigen will. Deshalb ist es vielfach sinnvoll, etwas Zeit verstreichen zu lassen und nicht unmittelbar zu reagieren. „Mich ärgert das gerade sehr, aber ich möchte das noch etwas einsickern lassen“, kann ein Satz sein, den man im persönlichen Gespräch einbringt. Bei medial vermittelten Aufregerthemen ist man überdies als einzelne Medienkonsumentin oder -konsument nicht verpflichtet, sofort zu reagieren, selbst wenn Social-Media-Feeds den Eindruck vermitteln können, man müsse permanent und eilig Position beziehen. Die erwähnten Kommunikationswissenschaftlerinnen Phillips und Grimes haben zwei Aufsätze verfasst, in denen sie Empfehlungen geben für das Wütendsein im Internet. Selbst wenn man vollkommen gerechtfertigt Wut verspürt, kann ein Zeit-verstreichen-Lassen sinnvoll sein, schreibt Grimes. Denn „wir müssen uns nicht von der Wut mitreißen lassen, stattdessen können wir diesen kleinen Teil an Zeit und Raum erkennen, den wir zwischen dem Impuls zu handeln und dem tatsächlichen Handeln haben – und diese Zeit und diesen Raum nutzen, um eine kluge Entscheidung zu treffen und durchdachter zu reagieren“.
3. Welche Reaktion oder welche Intensität in meiner Reaktion ist angemessen oder sogar strategisch sinnvoll?
Wenn ein Vorfall zu Recht Ärger auslöst, stellt sich die Frage, wie man sinnvoll reagieren kann. Ein einfaches Beispiel: Gerade bei manchen gezielten Provokationen – sicher nicht immer, aber manchmal – kann taktisches Schweigen die richtige Antwort sein. Das heißt, ich gebe der Aussage, die ich ablehne, bewusst nicht noch mehr Raum. Doch das ist, wie wir sicher alle aus eigener Erfahrung wissen, leichter gesagt als getan, denn wer wütend ist, lässt sich gerne zu einer impulsartigen Reaktion hinreißen und macht damit die Provokation zusätzlich sichtbar. Grimes empfiehlt ein paar Übungen, wie man seine Impulsreaktionen identifizieren und in den Griff bekommen kann. Unter anderem kann man den eigenen Körper „scannen“, zum Beispiel wie sehr man etwa die Zähne zusammenpresst oder sich verspannt. Wenn man die Intensität der eigenen Emotionalität, und wie man körperlich darauf reagiert, beobachtet, erkennt man womöglich den Moment, ehe man mit einer Kurzschlussreaktion antwortet.